Risiko im Griff. Hand drauf!
Leben wir heute in besonders risikoreichen Zeiten? Im Hinblick auf die vielen Krisen fühlt es sich häufig so an. Wie sich Risiken realistisch bewerten und regulieren lassen, erklärt der Volkswirt, Soziologe und renommierte Risikoforscher Ortwin Renn.
Herr Renn, Sie erforschen unter anderem die sogenannten „systemischen Risiken“. Was versteht man darunter?
Das sind Risiken, die die Funktionsfähigkeit eines gesamten Systems – zum Beispiel das der Energieversorgung – infrage stellen. Sie haben vier Merkmale: Sie sind erstens grenzüberschreitend, das heißt, sie greifen auf andere Sektoren über. Sie sind zweitens sehr komplex, haben also viele Ursachen, die nicht immer leicht zu bestimmen sind. Drittens sind die Beziehungen zwischen den beteiligten Variablen meist probabilistisch und nicht linear, das heißt, wir können nicht sicher sagen, was passieren wird, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Und viertens haben viele systemische Risiken sogenannte Tipping Points. Bevor diese erreicht sind, passiert gar nichts. Danach aber fällt alles zusammen. Dadurch ist „Versuch und Irrtum“ keine gute Lernstrategie, um mit systemischen Risiken umzugehen.
Ukraine-Krieg, Inflation, Klimakrise – sind das typische systemische Risiken, die wir gerade erleben?
Der Krieg in der Ukraine und der Klimawandel sind typische systemische Risiken, die die Funktionsfähigkeit von Systemen gefährden beziehungsweise in Zukunft gefährden werden. Die Inflation dagegen ist die Auswirkung eines systemischen Risikos. Wir haben in der Vergangenheit schon häufiger Zeiten mit Inflationen erlebt – auch kritischere als die jetzige. Relativ neu für die jetzige Situation ist jedoch die Gleichzeitigkeit von Risiken aufgrund der gestiegenen globalen Vernetzung. Dadurch verstärken und beeinflussen sich Krisen gegenseitig. Man spricht auch von „Polykrise“. So hat der Krieg in der Ukraine diverse Krisen mit ausgelöst: in der Gasversorgung, bei den globalen Lieferketten, bei der Ernährung vieler Länder des Globalen Südens und eben die höheren Inflationsraten.
Wie schätzen Menschen solche Risiken ein?
In der Wissenschaft betrachten wir Risiken unter zwei Aspekten: die Wahrscheinlichkeit, dass das Risiko eintritt, und den potenziellen Schaden, der damit verbunden ist. Politisch und gesellschaftlich spielen viele weitere Faktoren eine Rolle. Wir schätzen Risiken als gefährlicher ein, wenn wir jemanden dafür verantwortlich machen können, wie Putin für den Krieg in der Ukraine.
Auch Risiken, von denen wir glauben, dass sie uns aufgezwungen werden, schätzen wir höher ein. So überschätzen Impfgegner beispielsweise das Risiko von Impfnebenwirkungen. Umgekehrt unterschätzen wir Risiken, die wir freiwillig eingehen. Schnelles Autofahren etwa: Mehr als 70 Prozent der Deutschen glauben, dass sie bessere Fahrer sind als der Durchschnitt und deshalb mehr Geschwindigkeit nicht gleich mehr Risiko für sie bedeutet.
Wie lassen sich derlei Risiken regulieren und managen?
Es gibt vier Stellschrauben im Umgang mit Risiken: Die erste ist Technik. Sie soll ein hohes Maß an physischer Sicherheit erzeugen. So erhöhen wir etwa die technische Sicherheit von Anlagen, Fahrzeugen oder Haushaltsgeräten gegen Unfälle aller Art. Die zweite Stellschraube sind die Betriebsorganisation und Sicherheitskultur in einem Unternehmen, die für ein vorsorgendes Risikomanagement sorgen sollen. Unternehmen können etwa einen Chief Risk Officer benennen und kluges Risikomanagement zu einem Treiber des unternehmerischen Handelns machen. Die dritte Möglichkeit ist politische Regulierung, um riskantes Verhalten zu reduzieren – wie bei der gesetzlichen Anschnallpflicht im Auto zum Beispiel. Nicht zuletzt ist aber auch das individuelle Verhalten ein Regulierungsfaktor. Hier können wir durch Einsicht und soziales Lernen risikobewusstes Verhalten fördern.
Wie blicken Sie unter diesen Krisenbedingungen aktuell auf den Wirtschaftsstandort Deutschland?
Deutschland ist im Export und Import von einigen wenigen Ländern stark abhängig, weil wir immer noch viel produzierendes Gewerbe haben. Das gilt für Rohstoffe, zum Teil auch für Vorprodukte, die wir vor allem aus China beziehen. Russland war vor dem Krieg gar nicht das Land, von dem wir quantitativ gemessen wirtschaftlich besonders abhängig waren. Aber die Güter, die wir von dort importiert haben, waren für uns lebenswichtig. Das ist unsere Achillesferse: Wir haben keine hohe Selbstversorgungsquote.
Wie wird sich Deutschland wirtschaftlich in den nächsten Jahren entwickeln?
Der Druck ist hoch, dass wir als Wirtschaftsstandort unabhängiger werden. Doch die dafür anzusetzenden Kosten sind ebenfalls ein wichtiger Faktor, der die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft berührt. Die Lohndifferenz zu China ist nach wie vor groß. Das Land hat ein riesiges Reservoir an inländischen Arbeitskräften, während bei uns Fachkräftemangel herrscht. Diese Diskrepanz würde ich als ernstes systemisches Risiko ansehen.
Wir brauchen mehr zielgerichtete Migration und ein höheres Maß an Flexibilität im Arbeitsmarkt. Die große Frage ist: Wie viel Effizienz können wir uns leisten abzubauen zugunsten einer höheren Resilienz der Wirtschaft? Dieser Zielkonflikt ist nicht einfach zu lösen. Aber ich vertraue auf die Innovationskraft und Kreativität von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, dass wir auch diese Herausforderung erfolgreich meistern werden.